prof. dr. med. dragana seifert

Foto Dragana Seifert

Wer sich tagein tagaus mit menschlichen Schicksalen und Abgründen beschäftigt, hat dafür gute Gründe. Prof. Dr. med. Dragana Seifert, eine der Verantwortlichen des Vereins Tatsache e.V., gibt Einblicke in Ihren Werdegang und ihre persönliche Motivation.

 

Welches Spendenziel ist Ihnen persönlich am wichtigsten und warum?

Für mich ist das wichtigste Spendenziel Geld zu sammeln, um uns ein CT- und MRT-Gerät kaufen zu können. Damit könnten wir in Zukunft Kinder bei Verdacht auf Kindesmisshandlung zeitnah untersuchen und müssten nicht lange auf notwendige Untersuchungen warten und sie deswegen unnötig lange hospitalisieren.

 

Warum engagieren Sie sich persönlich bei dem Verein Tatsache e.V.?

Das Schicksal von Menschen, die Opfer von Gewalt geworden sind, sowohl Erwachsene, als auch Kinder, liegt mir sehr am Herzen. Menschen, die Gewalt im sozialen Nahraum erleben, haben in der Regel eine lange Leidensgeschichte, bevor sie sich trauen, sich ihrem Arzt oder einem Rechtsmediziner anzuvertrauen. Kinder, die Gewalt erleben, sind oft machtlos. Wissenschaftliche Untersuchungen haben bewiesen, dass der Gewalt  im Umgang miteinander sich von der einen in die andere Generation überträgt. Frauen, die als Kinder misshandelt wurden, leben als Erwachsene oft in Gewaltbeziehungen. Menschen, die selbst mit ihren Eltern negative Erfahrungen gemacht haben, misshandeln häufiger ihre eigenen Kinder.

In Deutschland wurde in den letzten Jahrzehnten viel für Opfer von Gewalt getan. So gibt es die Möglichkeit einer Nebenklage im Strafprozess, oder eine Wegweisung für Gewalttäter im sozialen Nahraum. Ungeachtet dessen wird noch immer zu wenig für Opfer von Gewalt getan.

Internationale Studien zeigen, dass Gewalt auch große finanzielle Ressourcen bindet. Einerseits können Opfer länger nicht arbeiten und auch die medizinischen Behandlungen von Folgen von Gewalt können hohe Kosten verursachen. Es wird international gefordert, mehr in Gewaltprävention zu investieren. Die Studien zeigen auch, dass ein Bruchteil des Geldes, das die Behandlung und Folgen von Gewalt kosten, ausreichen würde, um eine bessere Prävention durchzuführen.

 

Wie ist die Idee zur Gründung des Vereins entstanden?

Sowohl Prof. Püschel, als auch Herr Dr. Heinemann und ich sind als Sachverständige vor Gericht tätig. Wir haben immer wieder in Gerichtsverfahren erlebt, dass Geschädigte, Opfer von Gewalt, ihre Verletzungen vor Gericht nicht nachweisen konnten, da sie nicht rechtsmedizinisch untersucht worden sind. Wir wollten diesen Menschen ermöglichen, auch ungeachtet einer Anzeige bei der Polizei und ungeachtet dessen, ob sie sich legal oder illegal in Deutschlang befinden, eine rechtsmedizinische Untersuchung und ein gerichtsverwertbares Gutachten zu ermöglichen bzw. mitzugeben.

 

Die Rechtsmedizin in Hamburg gilt als eine der führenden Deutschlands. Warum benötigt sie trotzdem private Förderung?

Seit Gründung des Vereins sind wir auf private Förderungen angewiesen gewesen. In den ersten Jahren haben wir unsere Arbeit ehrenamtlich gemacht, danach war die Zahl der Untersuchungen so angestiegen, dass es uns nicht möglich war, unsere Arbeit nebenbei ehrenamtlich zu machen. Die Politik und Behörden haben zunächst finanzielle Unterstützung der rechtsmedizinischen Untersuchungsstelle verweigert.

Am Anfang konnte die Untersuchungsstelle nur dank Finanzierung von Privatpersonen aufrechterhalten werden. Auch nach der Gründung des Kinderkompetenzzentrums konnten wir nur dank privater Spenden eine halbe Stelle für eine Kinderärztin finanzieren.

Da die staatliche Finanzierung nicht ausreichend ist, sind wir im Kinderkompetenzzentrum bis heute auf private Spenden angewiesen.

 

Warum sind Sie Rechtsmedizinerin geworden?

Während meines Medizinstudiums habe ich nicht vorgehabt, Rechtsmedizinerin zu werden. Mein großer Wunsch war Radiologin zu werden. Die ersten zwei Jahre nach meinem Medizinstudium habe ich im Institut für Radiologie des Inselspitals in Bern gearbeitet. Dort habe ich auch meine Doktorarbeit geschrieben. Mein damaliger Chef setzte für eine Facharztausbildung ein Jahr in einem morpholgischen Fach voraus. Wir sollten die  Anatomie besser kennenlernen um die Computertomographie und Magnetresonanztomographie besser zu verstehen. Wir wurden verpflichtet, mindestens ein Jahr in der Pathologie zu arbeiten. Nachdem ich acht Monate im Institut für Pathologie der Universität Bern gearbeitet habe, fehlten mir noch die restlichen Monate und es ergab sich die Möglichkeit, die fehlende Zeit im Institut für Rechtsmedizin zu absolvieren. Dort habe ich meinen ersten rechtsmedizinischen Chef kennengelernt. Professor Dirnhofer hat nach wenigen Wochen seine Begeisterung für das Fach Rechtsmedizin auch auf mich übertragen können. Insbesondere war ich von der Klinischen Rechtsmedizin angetan und habe beschlossen, bei ihm zu bleiben. Professor Püschel teilt die gleiche Begeisterung für das Fach wie Professor Dirnhofer, nur diesem Umstand ist es zu verdanken, dass unser Verein gegründet werden konnte und die klinische Rechtsmedizin in Hamburg sowohl die allererste Abteilung dieser Art in einem rechtsmedizinischen Institut in Deutschland war, als auch bis heute die größte.

 

Was war für Sie persönlich das emotionalste Erlebnis in Ihrer bisherigen Laufbahn als Rechtsmedizinerin?

Diese Frage kann ich in wenigen Sätzen nicht beantworten. Es gab viele emotionale Momente. Zu wissen, dass unsere Gutachten dazu beigetragen haben, dass die Gerechtigkeit gesprochen wurde, bedeutet mir sehr viel. Die erwachsenen Patienten sprechen uns oft nach der Untersuchung darauf an, dass es ihnen geholfen hat, dass sich jemand die Zeit für sie genommen hat, ihnen zugehört und die Verletzungen dokumentiert hat. Ein anerkannter Hamburger Psychiater hat vor Jahren zu uns gesagt, dass unsere Untersuchungen für viele Opfer von Gewalt der Beginn einer Psychotherapie und Verarbeitung des Geschehens sind.

Besonders emotional sind natürlich die Untersuchungen von Kindern. Die Kinder merken sehr schnell, wer es gut mit ihnen meint. Ich erinnere mich an einen kleinen Jungen, der mit seiner Schwester in Obhut genommen wurde. Die Eltern waren Alkoholiker und haben ihre Kinder misshandelt. Der Junge im Vorschulalter hat nach der Untersuchung mit den Habseligkeiten, die sie in einer Plastiktüte gehabt haben, seine kleine Schwester an die Hand genommen und ihr gesagt: „Komm, jetzt gehen wir, jetzt sind wir in Sicherheit.“ Ich erinnere mich auch an einen Jungen, er war im Grundschulalter, geistig und körperlich behindert. Er wurde in seiner Familie massiv körperlich misshandelt. Er kam zur Untersuchung in Begleitung einer Mitarbeiterin des Kinderschutzhauses, in dem er untergebracht wurde. An dem Tag, es war ein sonniger Tag, haben wir sehr viel zu tun gehabt und er musste mit seiner Begleiterin ein wenig warten. Er hat sich mit ihr auf den Rasen vor unserem Institut aufgehalten und hat Wiesenblümchen gepflückt. Nach der Untersuchung hat er mir eine Hand voll selbstgepflückter Blumen gegeben und so gut er konnte gesagt: „Das ist für Dich.“ Wir erleben auch Kinder, die sich nach der Untersuchung an uns klammern und uns sagen: „Bei Dir möchte ich bleiben.“ Es fällt schwer zu glauben, dass es Kinder gibt, die bei einer Person, die sie noch nie zuvor gesehen haben, bleiben möchten, weil alles für sie besser erscheint, als zurück nach Hause gehen zu müssen.

Ich möchte mich bei allen bedanken, die uns ermöglichen, unseren Zauberschrank mit kleinen Geschenken für Kinder zu füllen. Viele können sich nicht vorstellen, wie froh manche Kinder sind, wenn sie einen Bleistift, einen Malblock, einen Müsliriegel oder ein Buch bekommen.

 

Was war Ihr größtes Erfolgserlebnis in Ihrer Praxis als Rechtsmedizinerin?

Mein größtes Erfolgserlebnis war es zu sehen, wie unsere rechtsmedizinische Untersuchungsstelle gewachsen ist. Das Gleiche gilt für unser Kinderkompetenzzentrum.

 

Wenn Sie sich wünschen könnten, was Sie mit Ihrer Arbeit erreichen könnten, was wäre das?

Ich würde mir wünschen, dass es uns gelingt, den Eltern und allen denjenigen, die Kinder misshandeln, begreiflich zu machen, dass so etwas nicht akzeptabel ist und dass sie Hilfe annehmen sollten, um in Zukunft ihre Kinder gewaltfrei und liebevoll zu erziehen.

 

Welche Leidenschaften verfolgen Sie neben der Rechtsmedizin?

Ich interessiere mich sehr für moderne Architektur, für Design und Kunst.

 

Was muss sich Ihrer Meinung nach politisch/gesellschaftlich ändern, damit Opfern von Gewalt schneller/besser geholfen werden kann?

Ich habe den Eindruck, dass es viele gute Organisationen gibt, die erwachsenen Opfern von Gewalt zur Seite stehen. Ich kann nur schwer verstehen, dass die Jugendämter so schlecht besetzt sind und insbesondere es zu wenige Kinderschutzhäuser in Hamburg gibt. Einige dieser Häuser müssten auch dringend renoviert werden. Wir müssen sicher mehr tun für vernachlässigte und misshandelte Kinder. Auch die Organisationen, die sich um Kinder kümmern, ihnen Nachmittagsbetreuung und warme Mahlzeiten anbieten, sollten mehr Anerkennung und Unterstützung finden.

 

Was empfinden Sie beim Umgang mit den Tätern?

Als Sachverständige muss ich neutral bleiben. Ich habe keine Emotionen den Tätern gegenüber. Wenn ich mit den Eltern spreche, die ihre Kinder misshandelt haben, versuche ich ihnen zu erklären, dass sie Hilfe annehmen sollten und dass ihr Verhalten inakzeptabel ist.

 

Nehmen Sie Ihr Umfeld anders war, seit sie täglich mit Gewalttaten, mit Opfern und Tätern konfrontiert werden?

Ja, ich nehme mein Umfeld anders wahr. Ich mache mir viel mehr Sorgen um Menschen, die mir nahe stehen. Seitdem kann ich keine Bücher lesen, die einen traurigen Ausgang haben und ich kann keine Filme anschauen, die ein trauriges Ende haben.

 

Wie entspannen Sie am besten?

Ich lese gerne und höre gerne Musik, vor allem Klavierkonzerte, Klavierstücke von Chopin, französische Chansons und Barbara Streisand. Ich gehe gerne in Kunstausstellungen und ich genieße es, die Zeit mit meiner Familie und Freunden zu verbringen, die viel Verständnis für meine Arbeit haben und mich immer wieder auf andere Gedanken bringen.

 

Vielen Dank, Frau Seifert!